Meinung

Rote Flagge, Trikolore und Babuschka Z: Die Schichtspaltung der russischen Gesellschaft

Rote Flaggen über Fahrzeugen auf russischer Seite und über befreiten Orten im Krieg in der Ukraine werden korrekt als ideologisches Bekenntnis des Volkes angesehen. Es ist aber nicht die Sowjet-, sondern "nur" die Siegesfahne, und zeugt auch von einer Spaltung der russischen Gesellschaft.
Rote Flagge, Trikolore und Babuschka Z: Die Schichtspaltung der russischen GesellschaftQuelle: Sputnik © Ilja Pitaljow

Von Nijas Aksanow

In Chabarowsk wurde das Lenin-Denkmal für die Feier des Sieges über den Faschismus am 9. Mai *hüstel* wegdekoriert – und zwar wie das Lenin-Mausoleum in Moskau mit allen möglichen bildtragenden Spanholzpaneelen abgedeckt. Die Militäroperation in der Ukraine hat nach ihrem sanften Übergang in einen Krieg gegen den geeinten Westen die enorme Kluft zwischen dem russischen Volk und den Eliten, zwischen der Basis und der Spitze offengelegt. Und es geht nicht nur darum, dass einige auswandern und andere sie decken – indem sie raten, die Auswanderwilligen zu trösten, zu umarmen und sie nicht als Fremde zu betrachten. Diejenigen, die geblieben sind, haben sich einem neuentbrannten Kampf um Symbole angeschlossen – und damit einem Kampf um Ideen.

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Die herrschende Klasse wird in diesem Krieg nicht nur wegen ihrer Armut an Sinn und Bedeutung und der stillen Sabotage getadelt, nicht nur wegen ihrer prowestlichen Bestrebungen und ihres Wunsches, den Krieg auf eine schändliche Orgie der abgekarteten Paktiererei zu reduzieren, ohne sich darum zu scheren, welch einen Dolchstoß in den Rücken der kriegführenden Armee sie damit versetzen. Nein, sie decken außerdem zum Beispiel die "grauen" Erdöl-Exportkanäle, über die die ukrainischen Truppen mit Treib- und Schmierstoffen versorgt werden, die schließlich der Vernichtung der russischen Soldaten dienen. 

Russlands erster Krieg unter Kapitalismus

Russland hatte in seiner Geschichte bisher noch keine Kriege mit dem Westen im Kapitalismus erlebt. Nochmals: Ein kapitalistisches Russland hatten wir bisher noch nicht in einem Krieg beobachtet. Denn im Ersten Weltkrieg lag in Russland ein lediglich zur Hälfte kapitalistisches – und zur anderen Hälfte feudales – System vor, und die Tatsache, dass der Krieg verloren wurde, war eine Folge dieses Systems. Die Spitze der Gesellschaft war in einem kritischen Maße mit dem Westen verbunden, und eine Mobilisierung war gerade aus Gründen nicht möglich, die im Klassenwesen zu suchen waren. Was soll man denn da sagen, wenn sogar das kapitalistische Deutschland den darauffolgenden Zweiten Weltkrieg verloren hat? Nur, dass Sowjetrussland diesen Krieg gerade deshalb gewann, weil es ein sozialistisches Russland war.

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Das heutige kapitalistische Russland sieht sich, nachdem es in einen Krieg mit dem Westen geriet, mit einem endemischen – um nicht zu sagen: pandemischen – Kult des Wlassow-Verrats innerhalb der Eliten konfrontiert. Diese Eliten sind die heutigen Weißgardisten. Und die Weißen waren, wie wir wissen, die besten Freunde der Entente, die nicht einmal ein halbes Jahr nach der Oktoberrevolution von 1917 zusammen mit den ehemaligen Gegnern, den Mittelmächten, weite und wichtige Gebiete Russlands besetzte. Die Symbolik der roten Fahne und die der Trikolore sind sehr ungleich, und hinter ihnen steht ein jeweils sehr anderes Russland. Es ist kein Zufall, dass die Verwendung der roten Fahne spontan während des militärischen Sondereinsatzes in der Ukraine begann.

Siegesbanner nicht ganz gleich Sowjetflagge – wie man selbst in Russland die Siegerrolle der UdSSR totschweigen kann

Die rote Fahne ist die Fahne des Sieges, da kommt man nicht umhin. Doch hier bereits beginnen die Mirakel des Hauses Brandenburg: Als Siegesbanner betrachtet das heutige Russland offiziell nicht die Flagge der Sowjetunion, die diesen Krieg führte und den Sieg darin erstritt, sondern das Sturmbanner der 150. Kutusow-Orden-zweiter-Klasse-Infanteriedivision von Idriza und Berlin. Also das rote Sturmbanner einer einzigen Division über der Reichstagskuppel, und nur dieses. Eine schlechte Komödie. Was man nicht alles tut, um zu vermeiden, dass der UdSSR positiv gedacht wird. Doch mit Verlaub, befand sich denn nicht das ganze Land im Krieg gegen Nazi-Deutschland? War es denn nur die eine einzige Idriza-Infanteriedivision, die den Krieg gegen das Dritte Reich führte – und gewann? Hatte die ganze restliche Sowjetunion dabei nur zugeschaut? 

Die Großmutter, die mittlerweile vom russischen Volksmund unter anderem als Babuschka Z berühmt gemacht wurde, trat den ukrainischen Neonazis mit einer roten Fahne entgegen. Es ist wohl leider wahr: Auf der russischen Militärausrüstung in der Ukraine wehen zwar häufig rote Fahnen, allerdings oft nur mit einer Aufschrift über die 150. Idriza-Schützendivision des Kutusow-Ordens zweiter Klasse. Aber jeder versteht doch, dass dies lediglich ein Zugeständnis an die ideologischen Erben der Weißgardisten ist. Denn gemeint ist auch damit in der Tat immer die rote Fahne der UdSSR. Gerade sie ist es, der man in der Ostukraine Herzlichkeit und Gruß entgegenbringt. Auch die Rückkehr der Lenin-Denkmäler in den Städten des Donbass ist nicht nur ein Symbol für die Ablehnung des Bandera-Kultes, sondern auch das Symbol der Rückkehr zur gemeinsamen Union. Wem kann das denn gegen den Strich gehen? War das Wichtigste in und an der UdSSR denn die Ziehung der administrativen Binnengrenzen?

Gründe für den Widerstand: Ergebnisse der wilden Privatisierung der 1990er Jahre in Bedrohung

Die rote Flagge, die UdSSR, die Lenin-Denkmäler sind ein gemeinsamer Feind der westlichen Eliten, aber auch der russischen und der ukrainischen. Worin unterscheiden sich denn die Geldmächtigen in Chabarowsk von denen in Lwow? Kapitalisten haben eben auch mal Geschäftsdifferenzen. Und was haben sie miteinander gemeinsam? Einen Hass auf die gemeinsame Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert – auf die Geschichte der UdSSR, der Sowjetzeit. Die gleichen Hassreflexe.

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Man kann den Westen sehr produktiv und absolut zu Recht etwa der Geschichtsumschreibung beschuldigen, wenn der Tag lang ist – aber ist der Konflikt zwischen den russischen Eliten und dem Westen denn so groß, wenn ihre Werte doch letztendlich die gleichen sind?

Eine Mobilisierung allein schon der Gesellschaft (von einer Mobilisierung im militärischen Sinne ganz zu schweigen) bedeutet in Russland bereits eine Zentralisierung und spontane Sozialisierung – sowohl im Sinne eines Zusammenschweißens der Gesellschaft, einer Umkehr der laufenden Spaltungsprozesse als auch im Sinne einer tiefergreifenden und weiterreichenden Unterstellung der wirtschaftlichen und administrativen Ressourcen dem Allgemeinwohl, bis hin zu ihrer Nationalisierung. Und die russischen Eliten spüren dies bis ins Mark: Die Vorsitzende der russischen Zentralbank Elwira Nabiullina, die jede Mobilisierung mit aller Macht verhindert, erklärt, dass diese finanziell gesehen die reinste Hölle sein wird. Aus der Sicht des russischen Kapitalismus ist hier ein uneingeschränktes Ja zu antworten: Er kann einen Krieg mit dem Westen gar nicht durchhalten und will deshalb schon jetzt die Kapitulation.

Ein langwieriger Krieg mit dem Westen würde unweigerlich eine Sozialisierung im obigen Sinne auslösen – und so von einem nationalen Befreiungskrieg zu einem Klassenbefreiungskrieg übergehen, da die Bourgeoisie niemals patriotisch ist. Patriotismus bringt ihr stets nur Ausgaben und Nettoverlust. Deshalb hasst die herrschende Klasse Stalin, drapiert zum Tag des Sieges jedes Jahr Lenin und sein Mausoleum und ersetzt die Flagge der UdSSR durch eine zwar ehrenhafte, aber doch nur eine Divisionsflagge. Die Privatisierung der wilden 1990er Jahre ist bedroht – und so empfinden sie es auch. Beginnen wird das Ganze mit der nationalen Einheit – und endet dann mit der Verstaatlichung von jedwedem Großbesitz. Es gibt keine andere Möglichkeit für das Land, seine Ressourcen zu konzentrieren.

Russland ist (Wieder)Geburtszeuge zweier Oxymorone geworden: "patriotischer Kapitalismus" und "ängstlicher Patriot". Das Leben wird uns dazu zwingen, Begriffe endlich sauber zu definieren. Es gibt keinen anderen Weg.

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Übersetzt aus dem Russischen. 

Nijas Askanow ist Ingenieur für automatisierte Kontrollsysteme, individueller Unternehmer, Reise- und Warentestjournalist, politischer Beobachter.

Sein Telegram-Kanal "Russischer Demiurg" bietet analytische Artikel und Vermerke zu den Themen aktueller Politik, Geopolitik und Wirtschafts- und Finanzwesen, die auch Eingang in etablierte Medien in Russland wie Regnum finden.

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