Meinung

Die "atomaren Ziele" des "Kremlberaters"

So, wie die Grenze zwischen Wort und Tat in der deutschen Justiz immer weiter verwischt wird, so gibt es auch keine Wahrnehmung mehr für den Unterschied zwischen Diskurs und Handeln andernorts. Aber das, was der "Kremlberater" anspricht, müsste diskutiert werden.
Die "atomaren Ziele" des "Kremlberaters"Quelle: www.globallookpress.com © Klaus Rose

Von Dagmar Henn

Wenn man so eine Schlagzeile liest, dann weiß man schon, dass etwas faul ist. "Putin-Berater nennt konkrete Ziele für einen Atomschlag", "Polen bedroht? Wie Putins Ideologe Sergej Karaganow den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigt." Das erzeugt Furcht und bestätigt natürlich den permanenten Unterton "Putin ist böse, böse, böse".

Erstaunlich ist dabei, dass die Berliner Zeitung (BZ) sogar eine deutsche Übersetzung des ursprünglichen Textes anhängt, aus dem diese Schlagzeilen gezogen wurden, wenn auch eine fehlerhafte (zumindest gegenüber der englischen Version des Originals). Damit wird das Risiko eingegangen, dass trotz der Verzerrungen des Artikels davor die Rationalität der eigentlichen Aussage durchdringt. Das ist für den heutigen Zustand deutscher Medien, die die Dokumentation von Originalaussagen scheuen wie der Teufel das Weihwasser, geradezu tollkühn.

Der Aufsatz, um den es geht, erschien am 13.06.2023 als Kolumne des Herausgebers in der Zeitschrift und auf der Webseite "Russia in Global Affairs" und am selben Tag auf der Webseite Profil. Der Autor, Sergej Karaganow, galt, das schreibt der BZ-Autor Alexander Dubowy sogar, "als prowestlicher und proeuropäischer Systemliberaler", als aber "die Beziehungen Russlands mit dem Westen zunehmend angespannter wurden", habe er sich überraschend schnell einer Orientierung Russlands gen Osten zugewandt, ein Beleg dafür, dass er nicht "aus tiefster innerer Überzeugung von der Notwendigkeit der Westannäherung Russlands gehandelt" habe, sondern nur opportunistisch die Meinung wechsle. Das mag sein; aber es gibt nicht nur in Russland massenhaft Menschen, deren Glaube an die westliche Demokratie tief enttäuscht wurde.

Der Wiener Jurist Dubowy, der für die BZ den Aufsatz Karaganows zurechtmassiert, schreibt übrigens regelmäßig für die BZ über Russland, immer im Ton des Bedauerns, dass die "liberalen Eliten" sich nicht durchsetzen konnten. Wobei es nicht uninteressant ist, was er sich unter einer Demokratie vorstellt – in einem Artikel vom Mai über Dmitri Medwedew beklagt er, die "klassischen, Einfluss auf die Politik ausübenden Oligarchen" seien unter Putin entmachtet worden und würden auch jetzt (und das schreibt er im Tonfall des Bedauerns) nicht revoltieren, denn sie hätten ihre Sicherheit Putin zu verdanken und seien untereinander verfeindet, deshalb "bleibt ihr Einfluss auf die Entscheidungen Putins begrenzt und die Wahrscheinlichkeit eines koordinierten Widerstandes gegen Putin im Sinne einer Palastrevolte nur wenig wahrscheinlich". Es ist nicht ganz klar, ob diese Sehnsucht nach der Oligarchenherrschaft nur auf Russland begrenzt ist oder ob er auch im Westen in der Beherrschung durch Gates, Soros, Musk und Co. den Gipfel der politischen Menschheitsentwicklung sieht – Demokratie jedenfalls ist das weder im einen noch im anderen Falle.

Karaganow sei 2015 Mitglied einer Kommission bei der OSZE gewesen, die Lösungsvorschläge für die Ukrainekrise machte, daher sei seine "Aggressivität vor diesem Hintergrund umso erschreckender", schreibt Dubowy. Der Abschlussbericht habe damals einen "intensiven diplomatischen Prozess" vorgeschlagen. Allerdings unterschlägt Dubowy auch hier einiges. Dieser Abschlussbericht nahm die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die bekanntlich vom Westen nie ernst gemeint waren, als Voraussetzung und beschäftigte sich dann mit einem Prozess, der darauf folgen sollte; in Ermangelung dieser Umsetzung also reine Phantasie. Und Karaganow hatte damals eine abweichende Meinung in diesen Abschlussbericht geschrieben, die sich in Gänze bewahrheiten sollte: Das Ergebnis ziele nicht "auf die Prävention einer neuen strukturellen, militärisch-politischen Konfrontation, die weit gefährlicher sein würde als die letzten Jahrzehnte des Kalten Kriegs. Sein Schwerpunkt liegt darauf, eine solche Konfrontation "sicherer" zu machen".

Karaganow, dessen Aufsatz allein durch den Zusatz "Putin-Berater" Relevanz erhält (wobei selbst Wikipedia äußerst vorsichtig formuliert: "Er soll Putin und Lawrow nahestehen"), wird von Dubowy außerdem als egozentrisch, schillernd, eine Aura des Geheimen ausstrahlend und zudem als "hochgradig umstrittener Provokateur" beschrieben. Was man alles sein darf, außer, man ist Russe. Dann nämlich landet eine provokativ zum Nachdenken anregende Aussage sofort unter der Schlagzeile "Putin-Berater nennt konkrete Ziele für einen Atomschlag". Auch wenn jeder denkende Mensch sofort erkennt, dass Brüssel ein weitaus passenderes Ziel wäre als Posen.

Aber Posen dient eigentlich nur der Illustration, und der Aufsatz selbst ist zwar tatsächlich in seiner Kernthese provokativ – dass nämlich die einzige Möglichkeit, den Westen, vor allem die USA, von einer nuklearen Eskalation abzuhalten, darin bestünde, in Erinnerung zu rufen, welche Folgen das hätte.

Karaganow ist beileibe nicht der Einzige, den die Frage einer solchen Eskalation umtreibt. Im Gegenteil, wenn die westlichen Medien zumindest noch so weit offen wären, wie sie es noch in den neunziger Jahren waren, könnte man diese Debatte in der Zeitung lesen oder in Talkshows verfolgen. Wie weit sind die Washingtoner Neokons bereit zu gehen? Wenn sie in der Ukraine militärisch nicht weiterkommen, auch nicht, indem weitere Länder mit hineingezogen werden, gibt es für sie einen Halt, ehe die Vereinigten Staaten und Russland aufeinanderprallen?

Es gibt genügend geopolitische Kommentatoren, die diese Truppe um Nuland und Kagan für derart irrational halten, dass nichts auszuschließen ist. Gibt es im Westen überhaupt ein Gegenüber für Verhandlungen? Die Welt drum herum verändert sich gerade in rasender Geschwindigkeit, aber ist da eine Chance auf Vernunft im fallenden Imperium?

Das ist eine sehr reale Fragestellung, auch wenn sie in sämtlichen deutschen Medien, die BZ voran, verspottet wird. Der einzige Grund, warum sie nicht alle geopolitischen Kommentare der "oppositionellen" Seite dominiert, ist, dass man die Entscheidungen eines irrationalen Akteurs weder beeinflussen noch vorhersagen kann und deshalb diese Frage, so gravierend sie auch ist, nur gelegentlich an die Oberfläche dringt. Aber jeder, der sich noch an die Zeiten von MAD, der garantierten wechselseitigen Zerstörung (auf Deutsch "das Gleichgewicht des Schreckens") erinnern kann, etwas, das nicht umsonst mit dem englischen Begriff für "wahnsinnig" abgekürzt war, stellt mit Entsetzen fest, dass die damaligen Zeiten, verglichen zumindest mit der heutigen US-Politik, höchst rational waren. Die US-Politik benimmt sich wie ein Kind, das mitten in einem Lager für Feuerwerk mit Streichhölzern spielt. Und das im Grunde schon seit Beginn der NATO-Osterweiterung.

Die BZ zitiert zum Einstieg einen Absatz aus Karaganows Aufsatz und nutzt ihn höchst manipulativ, um damit den Autor grundsätzlich in Frage zu stellen.

"Das Aufkommen von Atomwaffen ist das Ergebnis des Eingreifens des Allmächtigen, der mit Entsetzen feststellte, dass die Menschen, die Europäer und die Japaner, die sich ihnen anschlossen, innerhalb einer einzigen Generation zwei Weltkriege entfesselt hatten, die zig Millionen Menschenleben forderten. So übergab der Allmächtige der Menschheit die Waffen des Armageddon, um denen, die die Angst vor der Hölle verloren hatten, zu zeigen, dass diese existiere."

Das ist allerdings nicht der ganze Absatz, und diese Passage ist, nun, nicht ironisch, auch nicht metaphorisch, aber etwas von beidem, denn sie beginnt eigentlich mit diesem Satz: "Ich habe viele Jahre damit verbracht, die Geschichte der Nuklearstrategien zu studieren, und bin zu einem eindeutigen, wenn auch unwissenschaftlichen Schluss gekommen." So die Übersetzung der BZ selbst. Was diesen Rückgriff auf das "Eingreifen des Allmächtigen" auslöst, steht in den Zeilen nach dieser Passage:

"Auf dieser Angst gründete der relative Frieden des letzten Dreivierteljahrhunderts. Nunmehr ist diese Angst verschwunden. Das Undenkbare in Bezug auf frühere Vorstellungen von nuklearer Abschreckung ist geschehen – eine Gruppe herrschender westlicher Zirkel hat in einem Anfall von verzweifelter Wut einen groß angelegten Krieg im Unterleib einer nuklearen Supermacht entfesselt."

Der Kern ist mitnichten irrational; es geht hier eher um die tiefe Absurdität einer Entwicklung, die einen bereits abnormalen, aber friedlichen Zustand eben nicht, wie am Ende des Kalten Krieges allseits gehofft worden war, in einen rationaleren, mindestens ebenso friedlichen, sondern in einen noch irrationaleren Zustand überführte, der sich am Rande einer absoluten Katastrophe bewegt.

"Nunmehr ist diese Angst verschwunden." Damit hat er Recht. Und dieses Detail prägt die ganze Entwicklung bis zur heutigen Situation weit mehr, als die meisten zugeben würden. Wenn die letzten Zeitzeugen eines Ereignisses verschwunden sind, wird es zu einer Art Hörensagen, das heißt, es verliert viel von seiner emotionalen Qualität, die man sich als die Vergangenheit Erforschender dann mühsam erarbeiten muss, mit dem gleichen Aufwand, als wolle man Denken, Fühlen und Handeln zur Zeit Julius Caesars nachvollziehen. Die Schwelle dafür liegt der Forschung zufolge bei etwa 80 Jahren. Der Abwurf der Atombombe über Hiroshima erfolgte am 06. August 1945.

"Die Angst vor einer nuklearen Eskalation muss zurückkehren. Sonst ist die Menschheit dem Untergang geweiht." Auch da hat er Recht.

Schwierig ist seine Schlussfolgerung, die nukleare Abschreckung sei nicht anders wiederherstellbar als durch einen einmaligen Einsatz ebendieser Waffe, und zwar auf Europa, weil die US-Amerikaner keinesfalls "Boston für Posen" opfern würden (diese Bemerkung, bei der Posen nur als Beispiel für "klein und unwichtig" dient, ist die Grundlage für die Überschriften vom "Putin-Berater", der "nukleare Ziele" benennt).

Das ist klar provokativ. Allerdings muss man das im richtigen Rahmen sehen. Diese Aussage trifft ein Geisteswissenschaftler, kein politischer Amtsträger. Und er trifft sie in einer Situation, in der in sämtlichen westlichen Ländern innerhalb der politischen Kaste die Wahrnehmung für das Risiko eines nuklearen Krieges tatsächlich völlig verschwunden ist. Mit das deutlichste Beispiel dafür war die Nichtreaktion auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2022, als die versammelten westlichen Größen nicht mit der Wimper zuckten, als Wladimir Selenskij erklärte, die Ukraine überlege, Atomwaffen zu bauen. Bei jedem, der noch Reste des alten MAD-Modus im Denken hat, kreischten dabei sämtliche Alarmsignale; die westlichen Medien haben über diesen Moment nicht einmal berichtet.

Wenn überhaupt der Hauptgrund für die russische Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine erwähnt wird, die Vorwarnzeit im Falle eines Angriffs auf Russland, dann, um sich darüber lustig zu machen. Diese dummen Russen, immer fühlen sie sich bedroht ... Aber während man in Deutschland und den übrigen NATO-Ländern lauthals "Ich will doch nur spielen" sang, krachten die Kiewer Granaten in die Wohnhäuser im Donbass und überschlugen sich die ukrainischen Medien mit "Moskauer ans Messer". Weder die menschenfeindliche Ideologie der Ukraine noch die Bedeutung der historischen Erfahrung des deutschen Überfalls wird wahrgenommen, mit dem Satz "die Ukraine kann sich frei entscheiden" wird das alles vom Tisch gewischt. Dabei geht es bei der Frage einer möglichen atomaren Auseinandersetzung nicht nur um das Wohl Russlands, sondern um das der gesamten Menschheit.

Dass es sich um einen Debattenbeitrag und nicht um eine Handlungsanweisung handelt, stellt schon die russische Nukleardoktrin sicher, die gerade einen Erstschlag nicht vorsieht und erst geändert werden müsste, um Karaganows Argumentation umzusetzen. Das wiederum würde eine ausführliche öffentliche Debatte erfordern.

Es bezeugt mitnichten die Aggressivität Russlands, sondern vielmehr seine diskursive Offenheit, dass dieses Thema derart zur Diskussion gestellt wird, und ich bin mir fast sicher, dass Karaganow gerade mit dieser Provokation versucht, auch im Westen endlich eine Wahrnehmung für das Problem zu erreichen. Er versucht, das Kind zu erreichen, das mit den Streichhölzern spielt; er fuchtelt wild herum, schreit es an; aber die Absicht ist klar, wenn man den Text liest – er will um jeden Preis verhindern, dass das Feuerwerkslager explodiert.

Selbst moralisch ist keine einfache Antwort auf seine Schlussfolgerung möglich – was ist legitim, um die Auslöschung der Menschheit zu verhindern? Wobei es verblüffend ist, wenn man daran denkt, wie willig viele sich bei Corona allem möglichen Unfug unterworfen haben, weil es angeblich Menschenleben retten soll. Um einen atomaren Weltbrand zu verhindern, muss der Westen wieder zu Sinnen kommen. Das ist mehr als offensichtlich. Die Lösung des Dilemmas, die er vorschlägt, teile ich nicht, ohne im Stande zu sein, selbst eine bessere vorschlagen zu können. Aber was wirklich absolut erforderlich ist, und zwar in den gesamten Gesellschaften des Westens, ist, die Gefahr wieder wahrzunehmen, in der wir uns befinden, und ernsthaft darüber zu reden.

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