Welt im Wandel: Der Westen ist einsam
Von Pierre Lévy
Im Westen ist man besorgt. Natürlich ist den westlichen Politikern schon lange klar, dass ihr Traum von der Weltherrschaft auf Hindernisse stößt, die sie sich Anfang der 1990er-Jahre, als die Sowjetunion zerfiel, noch nicht vorstellten.
Doch in den letzten zwei Jahren und noch mehr in den letzten Monaten hat sich das Tempo ihrer Misserfolge und Enttäuschungen beschleunigt. Im Jahr 2022 war der verwirrte Notabzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan ein markantes Symbol dafür. Und 2023 musste sich das französische Militär – wenn auch geordneter – aus Mali, Burkina Faso und dann aus Niger zurückziehen.
Die militärischen Rückschläge sind nur die Spitze des Eisbergs. Auf diplomatischer Ebene folgte eine Enttäuschung, ja sogar ein Fiasko auf das andere. Als die russischen Truppen in die Ukraine einmarschierten, waren sich Washington und seine Verbündeten sicher, dass die ganze Welt ihrer Verurteilung Moskaus folgen würde. Sie erwarteten eine einhellige Empörung und damit eine allgemeine Anpassung an ihre Kriegstreiberei.
Dem war nicht so. Bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen enthielten sich viele Staaten des "Globalen Südens" einer Verurteilung Moskaus – und einige stimmten sogar dagegen. Schlimmer noch: Im August und September dieses Jahres unterstrichen drei diplomatische Ereignisse die zunehmende Schwierigkeit, eine globale Führungsrolle des Westens durchzusetzen: Der BRICS-Gipfel in Johannesburg, auf dem die Gruppe der fünf Gründer um sechs neue Mächte erweitert wurde (es gab weitaus mehr Bewerbungen); der G-20-Gipfel in Neu-Delhi, auf dem die Bemühungen, Russland zu stigmatisieren, vergeblich waren (die Schlussresolution war in der Ukraine-Frage noch zurückhaltender als im Vorjahr); und die UN-Generalversammlung, auf der eine Distanzierung von den G7 und dem, was sie symbolisieren, nach der anderen erfolgte.
Dies wurde insbesondere von einer der Kolumnistinnen für internationale Beziehungen von Le Monde festgestellt – einer führenden französischen Tageszeitung, die das Spektrum der Ideologie der französischen und sogar der europäischen Eliten ziemlich genau widerspiegelt. Nicht ohne Erschrecken stellt Sylvie Kauffmann fest, dass "die großen Akteure des Südens sich nicht mehr an die Erzählung der großen Akteure des Nordens halten", und schließt ihre Analyse vom 28. September mit den besorgten Worten: "Die Stunde der Anpassungen und des Neuausgleichs ist gekommen; es geht sehr schnell und es ist brutal".
Am 6. Oktober stellt ihr Kollege in derselben Zeitung fest, dass "die westliche Welt nicht mehr hegemonial ist", und führt die Entwicklungen an, die seine Analyse rechtfertigen. Er betont, dass dieses Phänomen auch bei Staaten zu beobachten ist, die für ihre historische Nähe zu Uncle Sam bekannt sind (eines der spektakulärsten Beispiele ist Saudi-Arabien).
Er weist auch darauf hin, dass die westlichen Politiker die ersten waren, die die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen untergruben, indem sie sich über die Regeln hinwegsetzten, angefangen mit dem Krieg gegen den Irak im Jahr 2003. Er hätte auch die Bestrafung Serbiens im Jahr 1999 erwähnen können. Kurzum: "Präsident George W. Bush hat Wladimir Putin einen Weg geebnet" und damit vielen nicht westlichen Hauptstädten einen guten Grund geliefert, Moskau nicht zu verurteilen.
Denn das berechtigte Gefühl, "mit zweierlei Maß zu messen", hat sich rasant verbreitet: einerseits eine beispiellose Mobilisierung der westlichen Verbündeten für massive Waffenlieferungen an die Ukraine und antirussische Sanktionen; andererseits eine (kaum) höfliche Gleichgültigkeit derselben gegenüber den wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen und sogar Konflikten, die die Dritte Welt verwüsten.
Und das alles war noch vor dem israelischen Ausbruch unerhörter Gewalt gegen die misshandelte Bevölkerung im Gazastreifen (aber auch, auf leiserem Niveau, gegen die Bevölkerung des Westjordanlands, durch die Siedler). Im Namen des "Rechts Israels, sich zu verteidigen" gegen die palästinensische Widerstandsbewegung und die militärischen Aktionen der Hamas eilten die Staats- und Regierungschefs der großen westlichen Länder nach Jerusalem oder Tel Aviv, um ihre "Solidarität" mit dem jüdischen Staat zum Ausdruck zu bringen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, versäumte es sogar regelrecht, ein Wort über die belagerten, strangulierten und bombardierten Gazaer zu verlieren.
Der US-Präsident seinerseits gibt nicht einmal mehr vor, seinen israelischen Verbündeten zur "Mäßigung" aufzurufen. Er hat sogar sein Veto gegen eine entsprechende Resolution Brasiliens im Sicherheitsrat eingelegt.
Wenn die Doppelmoral einen solchen Grad an Zynismus erreicht, wen kann dann noch das Unbehagen und oft auch die Wut der immer zahlreicher werdenden Länder des "Globalen Südens" wundern? Alle Bemühungen westlicher Diplomaten seit Februar 2022, sie hinter sich zu scharen und gegen Russland zu mobilisieren, fallen jetzt ins Wasser und wenden sich sogar gegen ihre Urheber. Fazit des angesichts dieser Entwicklung zunehmend ängstlichen Le Monde (21.10.2023): "Die Isolation droht … der westlichen Welt". Die vom Redakteur gesetzten Auslassungspunkte zeigen seine Verzweiflung: Monatelang hatte sich die sogenannte "Mainstream"-Presse nämlich über die Isolation … Moskaus gefreut.
Am selben Tag beginnt die Tageszeitung ihren Leitartikel mit den Worten:
"Die Wut steigt, sie kommt aus dem Süden und richtet sich gegen den Norden (…). Die Gewalt des Gegenschlags der israelischen Armee auf Gaza (…) hat eine starke, von Rachegedanken geprägte Protestbewegung gegen die westlichen Länder ausgelöst, die der Heuchelei bei der Auswahl der von ihnen unterstützten Opfer, beschuldigt werden. (…) Die Geschwindigkeit und Intensität, mit der sich diese Proteste in den letzten zehn Tagen ausgebreitet haben, deuten auf ein politisches Umschwenken hin."
Dieses "Umschwenken" ist so offensichtlich, dass selbst Josep Borrell, der Leiter der EU-Außenpolitik, seine Besorgnis öffentlich zugegeben hat: Nach seinem Besuch im Weißen Haus am 20. Oktober erwähnte er das, was Brüsseler Diplomaten überall im "Globalen Süden" bestätigen: eine wachsende antiwestliche Wut.
Die Geschichte wird nie im Voraus geschrieben, und es kann immer zu Wendungen kommen. Doch im Moment wechselt die "Isolation" die Seiten.
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