Russland

Wie "Biden" an die Front ging und einen Bradley erbeutete – Ein junger russischer Soldat erzählt

Dies ist die Geschichte eines jungen Russen, der freiwillig in den Krieg in die Ostukraine zog und als gereifter Mann daraus zurückkehrte. Es ist auch die Geschichte eines Menschen, der im Kampf an der Front verstanden hat, dass Krieg nicht die Mutter aller Lösungen ist.
Wie "Biden" an die Front ging und einen Bradley erbeutete – Ein junger russischer Soldat erzählt

Von Dmitri Plotnikow

Trotz des strömenden Regens in Sankt Petersburg, kamen zahlreiche Besucher in die Buchhandlung Listwa, um an einer Veranstaltung teilzunehmen, das zum Thema den Krieg in der Ostukraine hat und an der ein junger Kriegsteilnehmer über seine Erfahrungen an der Front erzählen würde.

Ein schlanker, junger Mann mit Brille und im Anzug sitzt vor dem anwesenden Publikum auf einem kleinen Podium. Er sieht aus wie ein Mensch, den man mühelos in der Aula einer Universität antreffen könnte, und man würde erwarten, dass er über Philosophie, internationale Politik oder Geschichte sprechen wird –  solcherart Vorlesungen finden in dieser Buchhandlung regelmäßig statt. Auf der Brust dieses jungen Mannes hängen zwei Tapferkeitsorden, die zu den höchsten militärischen Auszeichnungen zählen, die in Russland verliehen werden.

Sein Name ist Stanislav Getmanets, der als militärisches Rufzeichen "Biden" verwendet. Vor einem Jahr ging er als Freiwilliger an die Front in die Ostukraine. Seine Einheit, die in den russischen Medien als "Combat Anime" (Kampf-Anime) Bekanntheit erlangte, gehörte zu den ersten, die während der Gegenoffensive der Streitkräfte der Ukraine im vergangenen Sommer, westliche Militärausrüstung erbeuteten. Als Trophäe erbeuteten die Kämpfer seiner Einheit ein Infanterie-Kampffahrzeug vom Typ Bradley, das von den USA an die Ukraine geliefert wurde. In Sankt Petersburg erzählte Getmanets von seinen Erfahrungen an der Front und erläuterte, was dieser Krieg für ihn persönlich bedeutet.

Ein Intellektueller wird zum Infanterist

Direkt über dem jungen Mann auf dem Podium, hängt ein Porträt von US-Präsident Joe Biden, zusätzlich mit dem Buchstaben "Z" auf seine Stirn gekritzelt, dem informellen Symbol für Russlands Militäroperation in der Ukraine. Dies entspricht dem Schalk von Getmanets, da er sein militärisches Rufzeichen "zu Ehren" des US-Präsidenten annahm.

"Man könnte sagen, ihr befindet euch heute sozusagen auf einem Seminar zur persönlichen Weiterentwicklung", eröffnet der junge Mann seinen Vortrag. "Und wie beginnt man ein Seminar zur persönlichen Weiterentwicklung? Natürlich mit einer Erfolgsgeschichte."

Tatsächlich ist die Annahme, dass Getmanets einen akademischen Hintergrund hat, gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Bevor er an die Kriegsfront zog, arbeitete er bei "Solntse Severa", zu Deutsch "Die Sonne des Nordens", einem konservativen Zirkel für Vorlesungen in Sankt Petersburg. "Was mich betrifft, kann man mich nicht als Intellektuellen bezeichnen, ich habe lediglich einen Hochschul-Abschluss", sagt Getmanets mit Schalk in den Augen. "Aber ich war stets von gebildeten Menschen umgeben, die oft philosophische Vorträge hielten. Bei den meisten dieser Vorträge ging es um Russland und um die Notwendigkeit, die Ukraine-Frage zu lösen. Als ich mich entschied, an die Front zu gehen, um bei der Lösung dieser Frage mitzuwirken, folgte mir aus irgendeinem Grund niemand aus diesem Zirkel. Alle wollten lieber weiterhin theoretisch darüber debattieren."

Der Weg zum Militär war für Stanislav Getmanets steinig. Er hatte nie in der Wehrpflichtarmee gedient, weil er nach eigenen Angaben ein "ideologisch motivierter Wehrdienstverweigerer" war. "Ich denke, dass kein Staat das Recht hat, einem Bürger zu befehlen, ob und wann er das Heimatland zu verteidigen hat. Das muss jeder für sich selbst entscheiden." Er sei nicht bereit gewesen als Vertragssoldat in der regulären russischen Armee zu dienen. 

Somit musste er sich bei einer Einheit von Freiwilligen bewerben. Die Organisation Interbrigades, gegründet von Mitgliedern der in Russland nicht offiziell registrierten Partei "Das andere Russland", half ihm, nach Donezk zu gelangen. Gleich nach seiner Ankunft in der Region begann Getmanets mit der Ausbildung zum Drohnenpiloten.

Obwohl er im Zuge dieser Ausbildung große Fortschritte machte, war Getmanets mit seiner Situation nicht wirklich zufrieden. Die Zeit bis zum echten Kampfeinsatz zog sich hin und der Dienst als Drohnenpilot, barg die Aussicht, weit weg von einer echten Kampfumgebung zu bleiben. "Ich habe mich sehr bemüht und man wollte mich sogar zum Ausbilder machen. Aber dafür bin ich nicht in den Krieg gezogen", sagt der junge Mann.

Bald darauf stieß Getmanets in den sozialen Medien auf einen Beitrag, der sein Interesse weckte. In einer Online-Community auf dem russischen Social-Media-Netzwerk VKontakte, erfuhr er, dass das Angriffskommando "Kertsch" neue Rekruten in ihre Reihen aufnimmt. Wenige Tage später schloss er sich dieser Einheit an.

Der Alltag der "Kampf-Anime"

Der Krieg hatte erstmal auf persönlicher Ebene Auswirkungen auf Getmanets. An der Front traf er seinen Vater, mit dem er seit der Scheidung seiner Eltern etwa zehn Jahre lang nicht gesprochen hat. Kurz nachdem er sich dem Kommando "Kertsch" angeschlossen hatte, stellte sich heraus, dass sein Vater in derselben Einheit diente – und so konnten sie sich nach vielen Jahren wieder begegnen. "Wir haben viel geredet und alle Probleme gelöst, die wir miteinander hatten und die zwischen uns lagen", erzählt Getmanets.

Die meisten Mitglieder von "Kertsch" stießen zu dieser Einheit über Rekrutierungsaufrufe in Social-Media-Gemeinschaften, in denen hauptsächlich Internet-Memes ausgetauscht werden. Somit handelte es sich bei den Kameraden von Getmanets fast ausschließlich um junge Leute. Irgendwann wurde der Einheit "Kertsch" von der russischen Online-Gemeinschaft der Übername "Kampf-Anime" verliehen, da viele der Mitglieder der Einheit Fans der japanischen Anime-Subkultur waren.

Getmanets zeigt ein Foto auf dem er und einige seiner Mitkämpfer zu sehen sind, ausnahmslos alle sind unter dreißig Jahre alt. "Fast alle von uns haben den Tapferkeitsorden erhalten, nicht wenige sogar zwei. Alle diese Jungs sind Helden. Das gilt nicht für mich. Ich habe meine Medaillen einfach deshalb bekommen, weil ich im Gegensatz zu allen anderen auf diesem Bild, nicht von einer feindlichen Patrone getroffen wurde", sagt er.

Den ganzen vergangenen Winter und Frühling über war die Einheit mit Routineeinsätzen an der Front beschäftigt. "Ich lag jeweils nachts in unserem Unterstand, bis ich die Explosion einer Mörsergranate hörte. Das bedeutete, dass es acht Uhr morgens und Zeit zum Aufstehen war. Denn wie ein Uhrwerk, flog eine ukrainische Mörsergranate immer Punkt acht Uhr morgens in Richtung unseres Unterstands", erinnert sich Getmanets.

Anschließend gingen die Soldaten ihren täglichen Aufgaben nach, darunter dem Ausbau ihrer Stellungen und dem täglichen Kampf- und Taktiktraining. Diese Routine wurde jeweils durch den ukrainischen Mörserbeschuss zur Mittags- und Abendessenszeit unterbrochen. Gelegentlich verschärfte sich der Beschuss jedoch und kam auch zwischendurch rein.

"Wie stellt man sich im Allgemeinen einen Angriff vor? Wahrscheinlich wie in einem Film. Jemand rennt brüllend in einen Raum und nietet alle um. Aber das ist in der Realität anders", erzählt Getmanets. "Nach einem vorbereitenden Artilleriebeschuss gegen die feindlichen Stellungen, geht man zum Sturmangriff über. Zuerst rennt man aufrecht, weil man so schneller vorwärtskommt. Dann duckt man sich, während bereits die feindlichen Patronen über die Köpfe zischen. Je näher man dem Feind kommt, desto mehr muss man sich ducken. Früher oder später zwingt einen die Dichte des gegnerischen Feuers, sich hinzulegen. Danach wirft man Granaten in Richtung Feind und fängt an, zurückzuschießen. In den meisten Fällen kann man den Feind nicht neutralisieren oder überwinden, und irgendwann geht einfach die Munition aus. Somit zieht sich der Stoßtrupp in die eigenen Schützengräben zurück. Dann, ein paar Tage später, spielen die Ukrainer dasselbe Spiel und greifen uns an."

Die relative Ruhe der Winter-Frühlings-Periode blieb für Getmanets ebenso in Erinnerung, wie die heftigen Kämpfe im darauffolgenden Sommer. "Der Feind war immer in Sichtweite und wir waren immer in seiner Sichtweite. Man beobachtet einander sehr genau. Und glauben Sie mir, Soldaten werden durch diese Anspannung zu den glühendsten Pazifisten."

Der Augenblick des Ruhms

Getmanets hat viel über die Gegenoffensive der Ukraine zu erzählen. Er war Teil jenes Stoßtrupps der Einheit Kertsch, die einen Bradley-Schützenpanzer erbeutete, der von den Vereinigten Staaten an die Ukraine geliefert wurde.

Aufgrund eines Fronturlaubs verpasste Getmanets den Beginn der Gegenoffensive der Ukraine. Als er an die Front zurückkehrte, erkannte er seinen Frontabschnitt nicht wieder. Die von seinen Einheiten besetzten Stellungen hätten sich im Chaos der ständigen ukrainischen Angriffe stark verändert. Die Streitkräfte der Ukraine setzten in den ersten Phasen der Gegenoffensive sehr viel westliche Ausrüstung ein und die ukrainischen Kommandeure setzten darauf, dank dieser "Trumpfkarten" die russische Verteidigungslinie zu durchbrechen. Die russische Seite zeigte sich zunächst besorgt. Doch bald war zu erkennen, dass es möglich ist, NATO-Panzer und westliche Infanterie-Kampffahrzeuge zu zerstören – sie haben einfach andere Schwachstellen, als die sowjetischen Kampffahrzeuge, die zuvor von der ukrainischen Armee eingesetzt wurden.

Die erfolglosen Taktiken des ukrainischen Militärs hatten auch viel mit den erheblichen Verlusten westlicher Technik zu tun. "Sie haben versucht, die Bradley-Schützenpanzer wie Taxis zu benutzen, mit denen die Soldaten an die Kampflinie gebracht werden sollten", erzählte Getmanets und sprach darüber, wie es ihm und seinen Kameraden gelang, den ersten US-amerikanische Schützenpanzer zu erbeuten. "Sie haben kühn versucht, bis zu unseren Schützengräben vorzudringen und dort anzulanden, und das gesamte, durch Minen geschützte Niemandsland zu umgehen. Die meisten Schützenpanzer fielen unserer Artillerie und unseren Panzerabwehrraketen zum Opfer und brannten aus. Einige wurden schließlich nahe an unserer Linie zerstört, da sie inzwischen die Feuerunterstützung der anderen Schützenpanzer verloren hatten."

Dasselbe geschah mit dem Bradley-Schützenpanzer, der vom Stoßtrupp von Getmanets erbeutet wurde. "Wir haben uns in eine Position verlegt, von wo aus wir unseren Kameraden Feuerunterstützung geben konnten. Wir gingen davon aus, dass an dieser Position niemand sonst war. Dann hörten wir das Geräusch eines Motors. Wir schwärmten aus und näherten uns der Stelle, von der das Motorengeräusch kam. Und da sahen wir den Bradley-Schützenpanzer – der Motor lief, während die ukrainische Besatzung bereits zu Fuß auf der Flucht in Richtung ihrer Stellungen war. Die Besatzung ließ das Fahrzeug einfach zurück."

"Jetzt nehmen wir uns dieses verdammte Ding", sagt einer der Mitkämpfer von Getmanets in einem Video, das unmittelbar nach der Übernahme des Bradley aufgenommen wurde. Im Schützenpanzer fanden sich viele Trophäen. Im Stoßtrupp gab es einen Soldaten, der wusste, wie man einen russischen BMP-3 Schützenpanzer fährt – und der Bradley-Schützenpanzer erwies sich als ähnlich in der Bedienung. Und so fuhr der Stoßtrupp den erbeuteten Schützenpanzer hinter die eigenen Linien.

Der Vortrag von Getmanets fand während eines kurzen Fronturlaubs statt, den er in Sankt Petersburg verbrachte. Anschließend kehrte er zurück an die Front zu seiner Einheit. Nach dem Ende des Krieges wolle er ein Buch schreiben. "Ich werde ein russischer Ernst Jünger sein, aber mein Buch wird sich entschieden gegen den Krieg wenden." Er gesteht, in dem Jahr, das er an der Front verbrachte, viele Dinge noch einmal überdacht zu haben. "Meine Entscheidung war sehr kindisch und egoistisch. Vor allem, weil ich meiner Mutter unvermittelt verkündet habe, dass ich an die Front gehen würde und nicht mit ihr vorher darüber gesprochen habe. Ja, im Krieg kann man viel über sich selbst lernen. Ohne den Krieg wäre ich nicht der Mensch geworden, der ich heute bin. Aber die Sache ist die: Man kann auch ohne Krieg ein erfolgreicher Mensch werden. Um das zu verstehen, musste ich allerdings erst in den Krieg ziehen."

Übersetzt aus dem Englischen.

Dmitri Plotnikow ist ein politischer Journalist, der sich mit der Geschichte und den aktuellen Ereignissen ehemaliger Sowjetstaaten beschäftigt.

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